Artikel in der »Volksstimme«
Wer hätte das gedacht?
Unser Geschäft ist die vergängliche Darbietung. Wir sind darstellende Künstler, also stellen wir dar. Und zwar alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Menschen, Tiere, Pflanzen, Objekte, Geschichten von gestern, Geschichten von morgen, wahre und erfundene Ideen, Ideologien und noch vieles mehr. Auf jeden Fall höchst kreativ und oft mutig. Wovor wir jedoch so gut wie immer Muffensausen bekommen, ist die kreative Selbstdarstellung. Da werden wir auf einmal schamhhaft. Wie es zu diesem Phänomen kommen kann, vermag ich in Dreitausend Zeichen inklusiver Leerzeichen, nicht zu beantworten. Was ich jedoch mit Gewissheit sagen kann, ist, dass wir etwas dagegen unternehmen mussten. Und so haben wir entschieden:
Das Theater der Altmark wird zu TikTok-Profi. Frei nach dem Motto, wer mit der Zeit reisen möchte, muss bereit sein, neue Dinge auszuprobieren. Naja, neu… In Kinderschuhen steckt TikTok schon lange nicht mehr. In Hundejahren gerechnet könnte man die Plattform fast schon einen Greis nennen. Nur gut, dass wir Menschen sind und zudem innovativ... Und so begibt sich ein Ort, der normalerweise Menschen und Geschichten auf der Bühne zum Leben erweckt, in die digitale Welt der Selbstdarstellung. Doch bis es soweit kommen konnte, habe ich glatt ein paar Mal mit den Augen gerollt. Ich gestehe, Shakespeares „Titus Andronicus“ macht mir persönlich etwas weniger Angst. Ich konnte mir schon bildlich vorstellen, wie die Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaters versuchen, in 15-Sekunden-Clips ihre besten Theatermomente festzuhalten: Hamlet, wie er eine furiose Jonglage mit sieben Schädeln vollbringt, Mephisto seinen Monolog in TikTok-Tanzschritten performt, oder wie Romeo und Julia ihre tragische Liebesgeschichte in einer Reihe von Lip-Sync-Videos darstellen. Um Gottes Willen, müssen wir die Gretchen-Szene mit Emojis nachstellen?! Ich gebe zu, etwas engstirnig von mir. Auch wenn ich TikTok an sich für ein Challange mit skurriler Trends und unendlicher Katzenvideos halte, ist es inzwischen so etabliert, dass es nicht mehr aus dem täglichen Leben vieler Menschen wegzudenken ist. Und wer weiß, vielleicht bringt das Theater der Altmark mit seiner TikTok-Aktion tatsächlich frischen Wind in die Welt der digitalen Unterhaltung. Vielleicht entdeckt uns eine ganz neue Zielgruppe, die bisher noch nie über den Besuch eines Theaters nachgedacht hat. Am Ende des Tages geht es doch darum den Mut aufzubringen und sich in unbekannte Gewässer zu wagen. Sollten wir auf TikTok tatsächlich zu einer Sensation werden – auch wenn ich dann wahrscheinlich immer noch keine Ahnung habe, was genau TikTok ist - hoffen wir, dass Sie, lieber Leser, uns abonnieren, Verzeihung, folgen werden. Ps.: Nein, wir streichen die Theater-Abos nicht.
PPs.: Eigentlich mag ich Katzenvideos.